Erst vor kurzem begegnete mir der Satz „Moveo, ergo sum – Ich bewege mich, also bin ich“ von dem spanischen Arzt Antonio Alonso Cortés, den er 1866 in seinen Überlegungen über die Bewegungsempfindung formulierte.
Diese Neuformulierung von dem ursprünglich aufklärerischen Gedanken René Descartes‘ „Cogito, ergo sum – Ich denke, also bin ich“ [Descartes:1641] erinnerte mich an meinen eigenen Weg. Schon als junges Mädchen verspürte ich den Drang mich mehr zu bewegen. Ich liebte es in der Natur zu sein und abends nach langen Waldspaziergängen müde und hungrig nach Hause zu kommen. Im Schulsport verausgabte ich mich ehrgeizig im Basketball und in der Leichtathletik. Aber das reichte mir nicht. Ich wollte tanzen. Mich auf eine andere Art und Weise ausdrücken. Die Kunst kennenlernen. Auf der Bühne stehen. Ich suchte unbewusst nach Wegen, meinen Körper tiefer kennenzulernen und die Schwierigkeiten meiner Kindheit durch tänzerischen Ausdruck zu verarbeiten und neuen Kräften und Potential in mir zu begegnen. Ich wollte mich selbst durch meine Bewegung erspüren.
Transformation durch Bewegung
Neben der Schule tanzte ich mehrere Jahre lang in einer urbanen Tanzkompanie, entschied mich nach dem Abitur für ein Praktikum für performative Künste in London und absolvierte in Berlin eine zeitgenössische Tanz Vorausbildung. Trotz großem Interesse an einem Medizinstudium oder International Business, entschied ich mich für ein zeitgenössisches Tanzstudium in der Schweiz. Ich ahnte schon damals, dass ich meine Interessensfelder Heilung, Entwicklung und Transformation in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten mit dem Tanz als Grundlage vereinen kann. Heute verstehe ich meinen frühen Drang nach Bewegung und Ausdruck und möchte hierauf im Folgenden tiefer eingehen.
Wir leben in einer komplexen Welt. Das Leben ist ein dauernder Veränderungs- und Anpassungsprozess. Unsere Gesellschaften sind von Industrie und Produktion geprägt und die Art der Arbeit und des Lebens innerhalb der Gesellschaft fokussiert sich auf eine zunehmende Technologie und Maschinisierung im Alltag, wobei selbstverständlich auch die Nutzung der Computer eine bedeutende Rolle spielt. Parallel zu dieser Entwicklung begannen zahlreiche Wissenschaftler:innen, Tänzer:innen und Körpertherapeut:innen Ende des 19. Jhdts. und Anfang des 20. Jhdts., sich intensiver mit der Erforschung der Psyche und des Körpers zu beschäftigen.
Bereiche wie die Osteopathie, der Ausdruckstanz, die Psychoanalyse, die Eutonie, die Kinästhetik und viele mehr entstanden und wurden gesellschaftlich im Laufe der Zeit größtenteils akzeptiert und anerkannt. In der Medizin, sowie in der Psychologie wird fortwährend der Mensch in seiner Komplexität erforscht und schon lange wird deutlich, dass unsere individuelle, als auch unsere kollektive Existenz ein zusammenhängendes System ist. Unsere Körper sind komplex und als ein Ganzes wahrzunehmen. Dieser Satz scheint so klar, doch leben wir in unserem Alltag sehr oft noch nicht nach diesem Grundsatz bzw. dieser Haltung.
Zwar gibt es in der „New Age“-Bewegung in Teilen der Gesellschaft einen großen Drang nach Verkörperungspraktiken wie Yoga, Meditation, Pilates und co. Wenn diese Praktiken jedoch nicht nachhaltig integriert und zu einer neuen Haltung und Lebensweise werden, bleibt es bei diesem Drang und nicht fundierten Überzeugungen und Verhaltensweisen.
Der Tänzer und Verhaltenskybernetiker Frank Hatch und seine Frau Lenny Maietta, Psychologin, haben in den 1970er Jahren den Begriff der „Kinästhetik“ geprägt. In dieser Lehre soll der Mensch (wieder) lernen, sich selbst und seine Bewegungen bewusst und differenziert wahrzunehmen. Dabei baut das Wissen der Kinästhetik auf allen ihr vorhergegangenen Körperpraktiken auf. Heutzutage werden Kinästhetik-Fortbildungen für Menschen in der Pflege, Erziehung und sogar in Führungspositionen angeboten. In dieser Lehre wird nach dem Grundsatz „Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre“ gearbeitet und hilft Menschen, sich selbstwirksam und differenziert wahrzunehmen. So können sie der Komplexität des Alltags und den neuen Anforderungen unserer Zeit auf körperlicher und psychischer Ebene im Leben begegnen. Oft fehlt es den Menschen an bewusst ausgeführter Bewegung und Selbstkontakt, was dazu führt, dass sie sich und die Welt nicht mehr präzise wahrnehmen können und reaktiv leben und handeln.
Wir sind nicht nur soziale Wesen, wir sind auch (neuro-)biologische Wesen.
Nicht nur die Kinästhetik („Lehre der Bewegungsempfindung“) unterstreicht die Wichtigkeit von Körperkontakt und die Bereitstellung von psychischer und körperlicher Sicherheit bei Babys und Kindern, damit ihr Gehirn und Nervensystem sich gesund und kohärent entwickeln und sie sich später im Leben sicher und wirksam fühlen können. Das Gebiet der Trauma-Forschung hat sich in den letzten 40 Jahren weiterentwickelt und das Wissen über das Nervensystem und Gehirn hat sich vertieft. Es wurde deutlich, dass unser Organismus über eine implizite Intelligenz verfügt und der Mensch auch auf seiner (neuro-)biologischen Ebene begriffen werden muss, um unser Verhalten und Fühlen zu verstehen.
Wenn wir uns also als Menschheit weiter entwickeln möchten, ist es fundamental wichtig zu verstehen, dass Trauma in all seinen Facetten einen erheblichen Einfluss sowohl auf unser individuelles, als auch auf unser kollektives Leben hat. Haben wir uns früher nicht sicher gefühlt, macht das heute in unserem Leben Effekte. Haben wir als Kinder (von unserem Organismus sehr intelligente) Überlebensstrategien entwickeln müssen, leben wir heute nach Identitätsglaubenssätzen, die uns von uns selbst trennen. Die Folgen sind oft Entfremdung von unserem Körper, Taubheit und Reaktivität. Dabei kann sich dies auch teilweise nur ganz subtil und lange nicht offensichtlich zeigen. Auf diesem Boden mit einem lückenhaften Verständnis über uns Menschen sind viele Erziehungs- und Bildungseinrichtungen und Organisationen gebaut.
Es braucht eine klare Wahrnehmung davon, wie der Status Quo ist, um das Bestehende dort abzuholen wo es ist und anschließend mit neuen Sicht- und Herangehensweisen zu bereichern. Um Entwicklung in unterschiedlichen gesellschaftlich sehr relevanten Institutionen zu ermöglichen, braucht es meiner Meinung nach ein Update im Verständnis und in der Kenntnis unserer Selbstwahrnehmung und Verhaltensweisen. Ein grundlegender Baustein davon ist die kinästhetische Bildung, um Entfremdung und Reaktivität entgegenzuwirken, auch um das Lebendige dem Maschinellen gegenüberzustellen und lebendige Resonanzerfahrungen mit der Natur, sich selbst und anderen Menschen zu ermöglichen [Göpel: 2021]. Dazu gehören auch Felder wie z.B. Kampfkunst, Tanz, Meditation, Singen und alle anderen Aktivitäten, die Verkörperung fördern.
Wenn wir die Kenntnis unserer Biomechanik und unseres gesamten Organismus fördern und wenn wir unseren Körper und unsere inneren und äußeren Bewegungen sensibler und präziser wahrnehmen, werden wir der Komplexität des Lebens resilienter begegnen können und die globalen Entwicklungen mit konstruktiven und gesunden Beiträgen bereichern. Die Fähigkeit des Menschen zur selektiven Aufmerksamkeit – das heißt, wir können uns auf ein Gespräch konzentrieren und vergessen in welcher Haltung wir sitzen oder dass wir eigentlich vor 5 Minuten noch Kopfschmerzen hatten – ist in vielerlei Hinsicht eine hilfreiche Entwicklung unseres Frontalhirns, um unser teilweise sehr schnelles Leben zu filtern und nicht jede Empfindung und jedes Geräusch bewusst wahrzunehmen. Jedoch heißt die selektive Aufmerksamkeit auch, dass wir oft jahrelang unserem Körper keine Aufmerksamkeit schenken [Myers:2015].
Das Gefäß, in dem unser Leben abgebildet wird.
Wir kriegen nicht mit, wenn unser Nervensystem – aus verständlichen Gründen – ständig in einem hyperaktivierten Zustand ist; wenn der untere Rücken langsam anfängt wehzutun; wenn wir über lange Zeit immer wieder erschöpft sind. Wir konzentrieren uns dann auf das „Wichtige“ und „Produktive“ und interessieren uns nicht für das, was in unserem Körper passiert. Auch, wenn wir irgendwo ja auch ahnen, dass Psyche und Körper nicht voneinander zu trennen sind. Oft wissen wir einfach nicht viel über uns und unseren Körper. Dabei ist er das Gefäß, in dem unser Leben abgebildet wird, verarbeitet wird und aus dem heraus wir uns auf das Leben beziehen.
Wenn wir aus dieser Perspektive auf uns und die Welt schauen, ist klar, dass wir im Prinzip jede Erfahrung, jede Erkenntnis, „verkörpert“ erfahren müssen, damit sie nachhaltig ist und integriert wird. Wir haben Körper; wir sind unsere Körper, wir sind biologisch verfasste Wesen und wenn wir weiterhin dies ignorierend durch das Leben gehen und die Einheit von Körper und Geist verneinen, sehe ich wenig Chancen die Herausforderungen unserer globalen Gemeinschaft konstruktiv anzugehen. Um mit der Komplexität des Alltags umzugehen brauchen wir eine Verkörperungspraxis.
Für das Treffen schwieriger Entscheidungen als Führungsperson hilft es z.B., durch spezifische und präzise Körperübungen die Koordination und die Intuition zu stärken, um das Nervensystem und Gehirn zu trainieren, Altes in Neues umzuschreiben und bedacht handeln zu können. Viele Methoden, die wir anwenden, um Entwicklung in Organisationen voranzutreiben, sind veraltet und nicht ganzheitlich genug. Sie konzentrieren sich auf offensichtliche, grobe Strukturen und Werkzeuge und vernachlässigen unsere körpereigene Intelligenz. Problematisch ist dabei die Diskrepanz zwischen dem vorgestellten Ziel, neue Formen von Führung und Organisation zu etablieren, und den Methoden, die aber an Effizienzsteigerung und Gewinnmaximierung festhalten. Für den Umgang damit, als Erzieher:in für 25 Kinder alleine zuständig zu sein, hilft es zu erlernen, wie unsere Körper in solchen Situationen reagieren, was im Nervensystem passiert und wie wir die Fähigkeit besitzen, z.B. durch Atemtechniken und Vagusnerv Stimulationen, uns selbst regulieren zu können.
Als Lehrer:in auf einer Schule hilft es, in stressigen Situationen auf körperliche Ressourcen zurückgreifen und diese den Schüler:innen sogar weitergeben zu können, wenn wir lernen, wie wir auf Komplexität körperlich regulierend und ausgleichend reagieren können. In Schulen ist es meiner Meinung nach von Vorteil, wenn die Schüler:innen lernen, wie sie durch die Stärkung ihrer Reaktionsfähigkeit, ihrer Reflexe und ihrer Koordination der weiterhin starken Technologisierung des Alltags begegnen und wie sie im Umgang mit z.B. Computern trotzdem Ruhe bewahren und im Gleichgewicht bleiben können. Denn das ist ihre Zukunft.
Schon lange müssen viele Menschen in Teilen der Welt nicht mehr selbst ihre Nahrung anbauen, um zu überleben. Das ist ein Fortschritt, birgt aber auch die Gefahr, dass wir die Involviertheit unserer Körper im Leben vergessen. Wenn wir z.B. körperlich in einer regelmäßig ausgeführten Übung erfahren, wie sich Gleichgewicht anfühlt, wird sich dieses Gefühl im Körper verankern. Dabei ist auch zu unterstreichen, dass das Empathievermögen, die Tiefensensibilität, die Beziehungsfähigkeit und die allgemeine Resilienz mit Situationen umzugehen, durch kinästhetische Bildung gestärkt wird.
Erst wenn wir ganz im Körper ankommen, haben wir Raum das Außen in uns abzubilden, uns wahrzunehmen und aus uns heraus zu handeln.
All dieses Wissen über unser Nervensystem, über unsere (neuro-)biologische Verfasstheit, über die Notwendigkeit kinästhetischer Bildung im individuellen und kollektiven Kontext, beschreibt eine neue Haltung. Eine Haltung, wie wir auf uns selbst und auf Andere schauen, wie wir unsere Kinder erziehen, wie wir zusammen arbeiten, was unsere Prioritäten sind und wie wir mit dem Planeten umgehen. Es beschreibt eine Haltung, wie wir in Zukunft in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, öffentlichen Einrichtungen und Organisationen leben, handeln und arbeiten wollen.
Anscheinend habe ich als junges Mädchen implizit gespürt, dass ich mich meinem Körper zuwenden muss, um gesund zu bleiben und auch um heilen zu können. Erst in meinem Tanzstudium hatte ich das Gefühl, wirklich in meinem Körper angekommen zu sein. Und das war nicht nur angenehm. Wenn wir in unseren Körpern anwesend sind, spüren wir mehr. Und wir spüren auch, dass wir manchmal nichts fühlen und wir uns taub fühlen. Auch das ist ein sehr wichtiger Schritt. Manchmal tut es weh den eigenen Körper mehr wahrzunehmen und manchmal ist es aber auch wunderschön. Und nur, wenn wir spüren wie es uns, anderen und dem Planeten wirklich geht, können wir intrinsisch motiviert handeln.
WAS IST EMBODIMENT? Verkörperung ist ein abstrakter Begriff und wird heutzutage immer vielfältiger benutzt. Im Prinzip können wir nur selbst erleben, was Verkörperung heißt. Dafür braucht es konkrete Übungen und Herangehensweisen, wie gegenwärtige Körperpraktiken und neuartige Übungen, die das alltägliche Leben und dessen Themen im Körper erfahrbar und somit transformierbar machen. Alltägliche Dynamiken können konkret in Bewegungsübungen übersetzt werden, sodass wir im Körper Muster (Anspannung, Entspannung, Halten, Loslassen, Druck, Leichtigkeit, Schwere…) erkennen, die wir wiederum mit unseren Bewegungen interpretieren, erforschen und umwandeln können. Somit kann das Ungreifbare fühlbar und sichtbar gemacht werden. Dabei gilt selbstverständlich der Aufruf, dass wir uns generell mehr bewegen müssen, damit unsere Körper gesund bleiben. Gleichzeitig müssen wir auf die evolutionären Veränderungen antworten und unsere Einheit von Körper und Geist schulen, um mit den gegenwärtigen Transformationsdynamiken umgehen zu lernen. Es ist wichtig, sowohl unsere Biomechanik, als auch unsere feine Wahrnehmung zu schulen für eine neue Haltung von Leben, Arbeiten und Gestalten.
Heute weiß ich …
Es ist mir ein Anliegen, Heilung, Entwicklung und Transformation in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten mit dem Tanz und der kinästhetischen Bildung als Grundlage zu vereinen. Denn die kinästhetische Bildung, die Verkörperung, das Stärken unserer präzisen Selbstwahrnehmung und damit verbunden die Wahrnehmung der Welt, ist Teil der Bildung der Zukunft, um ein nachhaltiges Leben mit kompetenten und gestaltungskreativen Menschen gemeinsam zu ermöglichen. In meiner Arbeit habe ich spezielle Ansätze entwickelt, das Thema Verkörperung in Form von präzisen Übungen und Praktiken für Einzelpersonen und Gruppen anzubieten.
Meine konkreten Anwendungsgebiete sind:
- Einzelcoachings „Embodiment“
- Einzelcoachings/Einzelunterricht zeitgenössischer Tanz
- Online Mentoring Programm – Ein transformierendes Bewegungstraining mit kontinuierlicher Begleitung und persönlichem Feedback, für jede/n Interessierte/n, der/die eine kontinuierliche Praxis wünscht
- Tanz- und Themenworkshops für Laien zum Thema „Bewegungsforschung und Improvisation“
- Tanzworkshops für Tänzer:innen in zeitgenössischem Tanz
- Choreografie/Stückentwicklung für Tänzer:innen
- Tanz mit Kindern und Jugendlichen
- als Teil eines Teams in der Schulentwicklung
- als Teil eines Teams in der Organisationsentwicklung
- als Teil eines Teams in Führungskräftetrainings
- als Teil eines Teams in Lehrer:innen- und Erzieher:innen-Fortbildungen
In den Coachings, Trainings und Workshops arbeite ich je nach Umfang und Anlass mit Ansätzen aus dem zeitgenössischen Tanz, dem integralen Coaching und Embodiment Praktiken. Kreativität und Ausdruck, Heilung und verantwortliche Auseinandersetzung mit individuellen und kollektiven Themen sind die Essenz meiner Arbeit. www.melissakieffer.de / zum Profil
Bibliografie (Quellen): 1. Unbekannter Autor, Artikel online https://www.biologie-seite.de/Biologie/Kin%C3%A4sthetik / 2. Göpel, Maja, Podcast online https://www.youtube.com/watch?v=Ye29OJlfYiM / 3. Myers, Tom. Interview online https://www.youtube.com/watch?v=T60vzafspaY&list=WL&index=32&t=2418s / 4. Politiklexikon, online. https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/17629/industriegesellschaft / 5. Schneider, Michael, New Age, Essay online. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/new-age/10559
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